von Jean-Marie Jacoby

Es ist das eines der tollen Schlag­wörter für poli­tis­che Son­ntagsre­den bei nahezu allen Frak­tio­nen der bürg­er­lichen Ein­heitspartei gewor­den: »Hous­ing first«. Das soll die stetig zunehmende Zahl Obdachlos­er reduzieren, wenn nicht gar beseit­i­gen, denn sie stören beim Kon­sum­rausch im Straßen­bild der Städte.

Ein Land hat tat­säch­lich beschlossen, dieses Konzept zu ver­all­ge­mein­ern. Was 2008 mit einem ersten Pro­gramm begann bis 2011 und bis 2015 ver­längert wurde in Finn­land, hat so gut funk­tion­iert, daß sei­ther alle vier Jahre das Nach­fol­ge­pro­gramm in die Tat umge­set­zt wird, also 2016–2019, 2020–2023 und mit 2024–2027, wonach es dann keine Obdachlosen mehr geben soll im Land. Ende der 80er Jahre des 20. Jh. gab es noch fast 19.000, aktuell ver­meldet die finnis­che Sta­tis­tik noch 4.341.

Das Konzept geht auf und hil­ft den Betrof­fe­nen, das ist das eine. Was die Regierung aber wohl am meis­ten begeis­tert ist die Fest­stel­lung, daß sie das bil­liger kommt als alles, was davor an Kosten anfiel für jene Sozialar­beit und Stütze, die das Prob­lem nicht klein­er wer­den ließ.

Fest­gestellt wurde näm­lich, daß es übers Jahr rund 9.600 € Erspar­nisse bringt bei in Anspruch genomme­nen Dien­stleis­tun­gen der Sozialar­beit gegenüber der Zeit der Obdachlosigkeit. Für in ein­er Woh­nung Unterge­brachte sind zudem 15.000 € im Jahr weniger Bud­get­mit­tel aufzuwen­den als für Langzeit-Obdachlose.

Das sollte doch auch hierzu­lande ein Argu­ment sein, wenn schon das Men­schen­recht auf Wohnen im real existieren­den Kap­i­tal­is­mus nicht gilt, und die human­is­tis­che Ein­stel­lung nicht weit ver­bre­it­et ist.

Das Konzept mit vier Prinzipien

1) Eine Woh­nung ist nicht eine Beloh­nung für Wohlver­hal­ten (z.B. Bere­itschaft zu ein­er Dro­gen- oder Alko­ho­len­twöh­nung), son­dern ein Recht. Wer obdach­los ist, soll eine kleine soziale Miet­woh­nung kriegen, auch wenn die Miete vom Sozialamt über­nom­men wer­den muß. Es wird den Betrof­fe­nen zur freien Wahl entwed­er eine Woh­nung für sie allein ange­boten mit und ohne beglei­t­ende Betreu­ung auf Wun­sch oder ein abschließbares eigenes Reich in ein­er Struk­tur, in der ständig Sozialar­beit­er ver­füg­bar sind.

2) Die Betrof­fe­nen haben ein Recht auf Autonomie und freie Wahl des Weges, den sie ein­schla­gen wollen. Wollen sie etwa nicht dro­gen­frei leben, wer­den sie dazu auch nicht gezwun­gen. Sie kriegen Ange­bote, die sie wahrnehmen oder auf nicht. Ziel ist es klar­erweise, die emo­tionalen und gesund­heitlichen Prob­leme zu lösen, damit die Men­schen nach ein­er gewis­sen Zeit wieder befähigt sind, am Arbeit­splatz zu bestehen.

3) Die Betrof­fe­nen wer­den von Sozialar­beit­ern nicht wie kleine unfol­gsame Kinder behan­delt, son­dern wie selb­st­ständi­ge Erwach­sene, deren Wün­sche zu respek­tieren sind. Das Ange­bot von Hil­fe zielt auf das Lösen von Prob­le­men ab, auf gesund­heitliche und emo­tionale Sta­bil­isierung, auf Hil­fe bei der Suche nach einem Arbeit­splatz, wovor eine Zusatzaus­bil­dung ste­hen kann. Sozialar­beit­er sind gehal­ten, möglichst viel zu loben, und das bei den kle­in­sten Fortschritten.

4) Die Woh­nung wird zum zu Hause, indem die Men­schen fähig wer­den, ihre Miete und ihren Unter­halt selb­st zu ver­di­enen mit der Zeit. Sie wer­den unter­stützt bei der Inte­gra­tion in die Umge­bung durch Nach­barschaft­sar­beit, aber es wird sich auch bemüht, sie wieder in Kon­takt mit ihrer Fam­i­lie zu brin­gen, außer sie wollen das nicht. Zweck der Übung ist in allen Fällen die Inte­gra­tion in die Gesellschaft, indem sie teil­haben am gesellschaftlichen Leben vor Ort. Gemein­schafts­ge­fühl ist ein wichtiges Ele­ment, um ein sta­biles Leben möglich zu machen – also exakt das Gegen­teil vom Gefühl des Aus­geschlossen­seins in der Zeit der Obdachlosigkeit.

Fehlende Maschen im sozialen Netz

Der Umset­zung des Konzepts ist in Finn­land eine Analyse des vorhan­de­nen Wohn­parks aus­ge­gan­gen. Sie ergab das Fehlen von gün­sti­gen, der Größe nach an Einzelper­so­n­en angepaßte Miet­woh­nun­gen. Sie zu erricht­en war fol­glich ein wesentlich­er Punkt des 2008 star­tenden ersten Pro­gramms. Dazu wurde die »Y‑Foundation« als öffentlich­er Wohn­bauträger geschaf­fen, die heute 17.300 Woh­nun­gen in 50 Gemein­den besitzt und sie über Vere­ine und Gemein­den an jene weit­ergibt, die ihr Kred­it-Rat­ing ver­loren haben, die aus dem nor­malen Woh­nungs­markt raus­ge­flo­gen bzw. direkt obdach­los sind.

Wir dür­fen uns keine Illu­sio­nen machen, denn unter kap­i­tal­is­tis­chen Vorze­ichen wer­den immer wieder Men­schen als Folge neg­a­tiv­er Ereignis­sen in ihrem Leben – Schei­dung, Krankheit, Ver­lust des Arbeit­splatzes u.v.a. – ihre Woh­nung ver­lieren. Eine intel­li­gente Staats­führung sorgt dafür, daß es ein soziales Netz gibt, das Men­schen in prob­lema­tis­chen Leben­sum­stän­den nicht zum freien Fall nach unten verurteilt. Denn je weniger weit sie fall­en, desto leichter ist es, sie wieder aufz­u­fan­gen und auf eine pos­i­tive Bahn zurück zu bringen.

In Finn­land wur­den die fehlen­den Maschen ergänzt. Damit wird für die Betrof­fe­nen der Woh­nungsver­lust nicht mehr gle­ichzeit­ig zum Ver­lust jed­er Hoff­nung durch den Auss­chluß aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Die Tat­en, die zu set­zen sind, liegen vor. Sie müssen als beispiel­gebend betra­chtet und umge­set­zt wer­den – wenn eine pos­i­tive Lösung des Prob­lems Obdachlosigkeit das Ziel ist und nicht nur eine Ver­drän­gung der Obdachlosen aus städtis­chen Zen­tren, geht das nicht mit Son­ntagsre­den, son­dern nur mit solchen Taten.


Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung vom Let­ze­burg­er Vollek am 11. Juni 2021.