von Giorgio Agamben

Vorbe­merkung der Redak­tion: Gior­gio Agam­ben ver­weigert selb­stre­dend die Teil­nahme an dig­i­tal­en Kon­feren­zen. Stattdessen schick­te er der Freien Linken diesen auf der 1. Kon­ferenz der Anti-Lock­down-Linken am 27. März 2021 als Gruß­wort ver­lese­nen und mit sein­er Erlaub­nis hier abge­druck­ten Brief, in dem er auf die Frage nach der Rolle ein­er kri­tis­chen Linken heute einge­ht. Gewiss ist Agam­ben kein dezi­diert Link­er, aber als namhaftester Kri­tik­er des heuti­gen wie Erforsch­er des Aus­nah­mezu­s­tandes im All­ge­meinen bat­en wir ihn um seine Sicht der Dinge. Diese fordert Rep­liken ger­adezu her­aus, wodurch wir uns eine Bele­bung der Debat­te durch diesen Anstoß von außen über die Frage der Rolle ein­er lock­down-kri­tis­chen Linken erhof­fen. Die Redak­tion bit­tet um Zusendung etwaiger Rep­liken per Email.

Das, was wir ger­ade erleben und bezeu­gen müssen, ist keine vorüberge­hende Krise, es ist vielmehr das Ende ein­er Poli­tik wie ein­er Welt. Diese Poli­tik ist diejenige, die fest verknüpft war mit den bürg­er­lichen Demokra­tien, ihren Ver­fas­sun­gen und Erk­lärun­gen der Rechte wie dem ökonomis­chen Sys­tem, das mit ihnen ver­bun­den war. Diese Welt war schon lange am Ende, wir wis­sen das, ohne daraus die Kon­se­quen­zen zu ziehen, die sich gle­ich­wohl auf­drängten und darin liegt der Grund, dass der Gesund­heit­ster­ror uns unvor­bere­it­et über­rumpelt hat. Auch wenn wir aus tak­tis­chen Erwä­gun­gen die ver­fas­sungsmäßi­gen Frei­heit­en ein­fordern kön­nen, die man uns heute genom­men hat, macht dies aus strate­gis­ch­er Sicht über­haupt keinen Sinn mehr.

Ger­ade weil es sich um das Ende ein­er Welt wie eines poli­tis­chen Sys­tems han­delt, ist das, was die Regierun­gen an sein­er statt instal­lieren möcht­en kein neues poli­tis­ches Par­a­dig­ma, son­dern lediglich die Form, die die alte Kul­tur beim Ver­such annimmt, ihr eigenes Ende zu über­leben. Offen­sichtlich ist, dass eine Men­schheit ohne Gesicht und ohne ausstrahlende Präsenz kein­er­lei poli­tis­che Real­ität besitzt und nicht unendlich über­dauern kann. Dieses Ende kann sich selb­stver­ständlich noch auf lange Zeit hin­streck­en. Aber wenn das Sys­tem nicht in der Lage ist, ein anderes poli­tis­ches Dis­pos­i­tiv außer dem der Aus­nahme und der Angst zu find­en, so zeigt die Geschichte, dass Ter­ror und Aus­nah­mezu­s­tand als solche kein sta­biles Sys­tem kon­sti­tu­ieren können.

Sie fra­gen mich nach der Rolle und Funk­tion ein­er kri­tis­chen Linken unter den gegen­wär­ti­gen Umstän­den. Es mag sein, dass „Rolle”, „Funk­tion” und selb­st „Linke” noch im Vok­ab­u­lar der zu Ende gehen­den Poli­tik gefan­gen und nicht mehr die richti­gen Begriffe sind. Allein, es gilt nicht über die Begriffe zu disku­tieren. Es geht vielmehr darum, ganz ein­fach die Frage nach dem zu stellen, was wir kön­nen sowie danach, was wir nicht können.

In der sich zu Ende neigen­den poli­tis­chen Tra­di­tion war die Frage nach dem, was wir tun kön­nen paralysierend und ster­il, da sie nicht zwis­chen Macht [puis­sance] und Herrschaft [pou­voir] unter­schied. Vor allem geht es nicht darum, eine Macht, über die wir ver­fü­gen, zu ver­wirk­lichen, son­dern darum, zu ver­ste­hen, dass jede echte Macht anar­chisch ist, das heißt ohne Herrschaft, und dass es nicht darum geht, sie in der Tat zu ver­wirk­lichen, da sie schon wirk­lich ist. Eine Möglichkeit wird in diesem Sinne nur wirk­lich, wenn wir ver­ste­hen, dass sie nicht vor­ab unser­er Herrschaft unter­liegt und dass es sich somit nicht darum dreht, sie hin­ter­her in die Tat umzuset­zen wie eine The­o­rie oder eine Idee, die es in die Prax­is umzuset­zen gilt. Eine Möglichkeit, die der Tat voraus­ge­ht und deshalb glaubt Herrschaft über sie zu ver­fü­gen, ist nichts anderes als eine Voraus­set­zung der Herrschaft und kann daher let­z­tendlich nur die Form eines Staates annehmen, das heißt eines Ver­gan­genen. Poli­tisch effek­tiv ist nur eine Macht, in welch­er man ver­weilt ohne sie zu besitzen. Der­jenige, der glaubt über Hand­lungs­macht zu ver­fü­gen, ist in Wirk­lichkeit ohn­mächtig, da er nur vor­ab zugewiesene Vorschriften und Befehle aus­führen kann; für den­jeni­gen, der sich im Gegen­teil ohne Herrschaft über seine Macht weiß, kann etwas möglich wer­den, weil er sich der Kontin­genz eines Ereigniss­es öffnet. Es liegt an euch in jed­er gegebe­nen Sit­u­a­tion zu ver­ste­hen, was das hin­sichtlich des Aufge­bots ein­er des­ti­tu­ieren­den Strate­gie impliziert.


Nach­trag der Redak­tion: Die vor­ma­lige Über­set­zung von poten­tia mit Wirkkraft und potes­tas mit Macht wurde auf Anre­gung eines Kom­men­ta­tors doch wie anfangs intendiert mit Macht und Herrschaft über­set­zt. Zudem reichen wir auf Nach­frage das frz. Orig­i­nal nach:

Ce que nous sommes en train de vivre et dont nous devons ren­dre témoignage n’est pas une crise tem­po­raire, c’est plutôt la fin d’une poli­tique et d’un monde. Cette poli­tique est celle qui était sol­idaire des démoc­ra­ties bour­geois­es, de leurs con­sti­tu­tions et de leurs déc­la­ra­tions des droits autant que du sys­tème économique qui leur était lié. Ce monde était depuis longtemps fini, nous le savions sans en tir­er les con­séquences qui pour­tant s’imposaient et c’est à cause de cela que la ter­reur san­i­taire nous a pris au dépourvu. Même si tac­tique­ment, nous pou­vons revendi­quer les lib­ertés con­sti­tu­tion­nelles dont on nous prive aujourd’hui, au point de vue stratégique cela n’a plus aucun sens.

Juste­ment, parce qu’il s’agit de la fin d’un monde et d’un sys­tème poli­tique, ce que les gou­verne­ments voudraient installer à sa place n’est pas un nou­veau par­a­digme poli­tique, n’est que la forme que la vieille cul­ture prend en tachant de sur­vivre à sa fin. Il est évi­dent qu’une human­ité sans vis­age et sans présence n’a aucune réal­ité poli­tique et ne peut pas dur­er indéfin­i­ment. Cette fin peut, bien sûr, se pro­longer pen­dant longtemps, mais si le sys­tème n’est pas en état de trou­ver un dis­posi­tif poli­tique autre que l’exception et la peur, l’histoire mon­tre que ter­reur et état d’exception ne peu­vent pas en tant que tels se con­stituer en sys­tème stable.

Vous m’interrogez sur le rôle et la fonc­tion d’une gauche cri­tique dans les cir­con­stances actuelles.

Il se peut que « rôle », « fonc­tion », et même « gauche » restent pris dans le vocab­u­laire de la poli­tique qui s’achève et ne soient plus les bons con­cepts. Mais ce n’est pas sur les ter­mes qu’il nous faut dis­cuter. Il s’agit plutôt de pos­er tout sim­ple­ment la ques­tion de que nous pou­vons et de ce que nous ne pou­vons pas.

Dans la tra­di­tion poli­tique qui s’achève, la ques­tion sur ce que nous pou­vons faire était paralysante et stérile, car elle ne dis­tin­guait pas entre la puis­sance et le pou­voir. Il ne s’agit surtout pas de réalis­er une puis­sance dont nous dis­posons, mais de com­pren­dre que toute puis­sance véri­ta­ble est anar­chique, c’est-à-dire sans pou­voir, et qu’il ne s’agit pas de la réalis­er dans l’acte, car elle est déjà réelle. Une pos­si­bil­ité devient en ce sens réelle seule­ment si nous com­prenons qu’elle n’est pas préal­able­ment en notre pou­voir et qu’il ne s’agit donc pas de la faire pass­er après coup dans l’acte, comme une théorie ou une idée qu’il faudrait met­tre en pra­tique. Une pos­si­bil­ité qui précède l’acte et croit pour cela avoir un pou­voir sur lui n’est qu’une pré­sup­po­si­tion du pou­voir et ne peut donc finale­ment avoir que la forme d’un Etat, c’est-à-dire d’un passé. Poli­tique­ment effec­tive est seule­ment une puis­sance dans laque­lle on demeure sans la pos­séder. Celui qui croit avoir un pou­voir d’agir est en réal­ité impuis­sant, car il ne peut qu’exécuter des pre­scrip­tions et des com­man­de­ments préal­able­ment assignées ; pour celui qui se sait, au con­traire, sans pou­voir sur sa puis­sance, quelque chose peut devenir pos­si­ble, car il s’ouvre à la con­tin­gence d’un événe­ment. C’est à vous de com­pren­dre dans chaque sit­u­a­tion don­née qu’est-ce que cela implique quant au déploiement d’une stratégie des­ti­tu­ante.