Vorbemerkung der Redaktion: Dieser Text erschien am 22.11.2020 im Community-Blog der Wochenzeitung der Freitag. Was im Herbst letzten Jahres zu beobachten war, blieb leider kein Einzelfall – derlei argumentationsleere Angriffe, pauschale Diffamierungen und aggressive Diskursverweigerung seitens einer kniefälligen Linken, der jegliche Analyse- und Differenzierungsfähigkeit abhanden gekommen scheint, sind auch heute noch an der Tagesordnung. Der Artikel hat leider nichts von seiner Aktualität eingebüßt und wird dem Freien Funken deshalb zur Zweitpublikation zur Verfügung gestellt. Der Autor schwang früher in einem linken Zentrum den Kochlöffel. Als Historiker forschte und publizierte er u. a. zum NS vor 1933 und proletarischen Milieus, war an einem Erinnerungsprojekt zu deportierten Jüdinnen und Juden beteiligt und betrieb biographische Recherchen für die Stolperstein-Initiative. Zuletzt saß er in einer Kommission zur Umbenennung einer Straße, die den Namen eines deutschen Kolonialisten trug.
Corona-Demos – Wenn die Antifa die Putztruppe für autoritäre Dekretregierer macht und alles niederbrüllt, was nach Kritik riecht, sei es auch noch so notwendig und angemessen.
Man soll seine Eindrücke von Erlebten ja zu Papier bringen, solange sie noch frisch sind – und genau das tue ich jetzt, wo mir der Unglaube und die Fassungslosigkeit über das, was ich gerade erleben musste, noch in den Gliedern sitzt.
Ich komme just vom Schweigemarsch, der am 22.11. in Berlin an der Bornholmer Brücke startete. Wer es nicht weiß: Der Schweigemarsch ist ein Demo-Format, das bereits zum zweiten Mal in Berlin stattfindet und sich unter dem Motto „Alles ist gesagt“ gegen die anhaltende Diskursverweigerung der Regierung und weiter Teile der Medien richtet und eine kritische, offene Auseinandersetzung mit den Corona-Maßnahmen fordert – ein Ansinnen, dass in einer Demokratie eigentlich unverdächtig sein sollte. In der Demoankündigung wurde explizit darum gebeten, Flaggen, Schilder, Banner, sowie Kleidung mit Parolen, Organisationen, Vereinen und Symbolen zu Hause zu lassen – ein probates und kluges Mittel, um diejenigen fernzuhalten, die gerne versuchen, solchen Kundgebungen ihren symbolischen Stempel aufzudrücken, andererseits ebensolche Menschen anzusprechen, die nicht gerne unter fremder Flagge oder stumpfen Parolen gezählt werden möchten. Es wurde ferner ausdrücklich auf Einhaltung der Hygieneregeln hingewiesen (woran die TeilnehmerInnen sich auch hielten). Auch ein kurz zuvor veröffentlichtes Statement der Veranstalter sei hier der Klarheit halber nochmal genannt: „Dieses Virus und die politischen Reaktion haben unser Land und die Welt nachhaltig verändert. Nochmal ganz deutlich – aus dem Orga Team Schweigemarsch negiert keiner das Corona Virus an sich. Aber wir stellen deutlich die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in Frage“. Das sollte man dürfen. Weiter: „Hier haben Faschismus und Extremismus auch schweigend keinen Platz“. So weit, so gut. Als jemand, der sich seit Beginn der Pandemie kritisch und vor allem quellenkritisch mit dem Corona-Komplex auseinandersetzt, bin ich da hin – andere Möglichkeiten, diesbezüglich auf der Straße Gesicht zu zeigen, gibt es ja schlicht nicht.
Ich war mit drei Leuten dort, die allesamt eine linke Sozialisation und langjähriges Engagement in linken Zusammenhängen haben – und es genauso wie ich an der Zeit fanden, gegen dieses zweifelhafte Treiben der hierzulande Verantwortlichen auf die Straße zu gehen.
Mein Eindruck zu den TeilnehmerInnen: Eine bunte Mischung, alte, junge, bürgerliche, hippe, unauffällige, hippieeske, legere, langhaarige, lockige, akademisch, proletarische … Auf den belebten Spaziermeilen, die ich auf der Hinfahrt per Rad passierte, hat es an diesem Sonntag Nachmittag nicht anders ausgesehen. Da das ja alles Nazis und Verschwörungstheoretiker gewesen sein sollen: Sicher, mit Symbolen und Flaggen sind die natürlich recht einfach als solche zu erkennen, ohne eben nicht; dennoch wage ich mal folgende Behauptung: Weder Stil, Kleidung, noch Habitus der Demoteilnehmer (die ich gesehen habe) haben irgendwie Anlass zu der Vermutung gegeben, dass es sich hier um Nazis, Nazihools oder ähnlich unangenehmes Volk gehandelt haben könnte, nein, wirklich nicht. Ich traf auch gleich zu Anfang auf einen alten Bekannten, der alles andere als ein Nazi, Antisemit oder Verschwörungstheoretiker ist – genausowenig wie ich oder meine drei BegleiterInnen. Man könnte nun einwenden: Niemand kann den Leuten in die Köpfe gucken. Das ist zwar richtig, trifft allerdings auf jede Demo zu, wo unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Partikularmeinungen sich unter einem Thema temporär zusammenfinden. (Weltfremd zu glauben, auf keiner Umweltdemo befände sich nicht der ein oder andere rechtsesoterische Heimatschollenverfechter oder Demos gegen TTIP oder G7 seien gänzlich frei von globalisierungskritischen Rechten). Also: Mein subjektiver Eindruck vor Ort war eindeutig der, dass dies alles war, aber keine Nazidemo.
Der Zug fast pünktlich unter massiver Polizeipräsenz los.
Die Mobilisierung und das Framing der Demo als Nazi- und Verschwörermarsch zuvor war immens. Schon auf der Bornholmer Brücke standen die ersten jugendlichen Antifas, mit Trillerpfeifen, Töpfen und laut „Nazis raus“ skandierend – ich konnte es nicht glauben und hab ihnen über die Köpfe der Polizei hinweg zugerufen „Ich hab schon über Nazis geschrieben und in linken Voküs den Kochlöffel geschwungen, da habt ihr noch bei Mami gewohnt, was fällt euch ein, mich hier als Nazi zu beschimpfen?“. Keine Reaktion, totale Diskussionsverweigerung – ein Umstand, der uns die restliche Demo begleiten sollte.
Auf der Bornholmerstraße wurde es dann wild. Trillerpfeifen, Töpfeklappern, teils Musik und Lautsprecherdurchsagen von Balkonen, eine Gegendemonstrantin hupte wie wild in ihrem Auto am Straßenrand. Schilder, Transparente, Höllenlärm. Eine meiner Begleiterinnen – nochmal: eine eingefleischte Linke – versuchte immer wieder, mit Gegendemonstranten ins Gespräch zu kommen: Abwehr, Aggression, Diskursverweigerung. Die andere sah auf der Gegenseite jemanden, mit dem sie sich gemeinsam in einem linken Nachbarschaftsprojekt engagiert, die begonnene Diskussion wurde von der Polizei abgewürgt, aber die zwei werden ihr Gespräch demnächst unter vier Augen fortsetzen – wenigsten mal ein Anfang.
Ab der Ecke Schönhauser begleitete dann ein ganzer Zug Gegendemonstranten permanent die Demo, aggressive, teils hasserfüllte Stimmung, Lärm, Tröten, Stinkefinger, pauschal diffamierende Plakate, „Haut ab“ – und „Ihr marschiert mit Nazis und Faschisten“-Sprechchöre (um Aerosole und Mindestabstand hat sich da natürlich keiner geschert…), ich habe gesehen, wie auf Leute gespuckt worden ist, einem älteren Mann wurde der Regenschirm entrissen und in die Menge geschleudert … Meine BegleiterInnen und ich kamen uns vor wie in einem surrealen Film, eine albtraumhafte Realsatire. Kann es sein, dass Linke, mit denen man sich kurz zuvor noch politisch verbunden gefühlt, z. T. sogar konkret tätig gewesen ist, einen plötzlich als Nazi, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker beschimpfen und bedrohen? Keiner von uns hatte auch nur entfernt den Eindruck, hier „mit Nazis und Faschisten zu marschieren“; sollte es dort überhaupt welche gegeben haben, waren sie es, die umgekehrt mit der überwiegenden Mehrheit der vielen anderen „marschiert“ sind. Und dieser Marsch war friedlich, die Leute ließen sich überwiegend nicht provozieren, die meisten trugen Masken, Abstände wurden eingehalten. Es war eine bizarre Umkehrung der Situation vom 18.11.: Während vor ein paar Tagen die Demo gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes von der Staatsmacht resolut weggekärchert wurde, hatte die Polizei heute alle Hände voll zu tun, die Schweigemarschierer vor einem aggressiven Mob (der Begriff entspricht leider genau dem, was ich erlebt habe) zu schützen.
Auf der Danziger wurde es mir dann irgendwann zu bunt und ich nutzte einen kurzen Moment, in dem die Polizei die Gegendemonstranten weiter hinten auf dem Gehweg zurückhielt, um quasi unbemerkt – und ohne mich am Ende noch prügeln zu müssen – der Demo zu entschlüpfen.
Es steckt mir ehrlich gesagt noch ganz schön in den Knochen. Selten habe ich was surrealeres erlebt. Nicht nur die schiere Aggressivität, das gnadenlose Framing jeglicher Kritik an den Maßnahmen als „rechts“, die Diffamierung anderer Ansichten, die Schwarz-Weiß-Malerei, die Diskursverweigerung. Vielmehr frage ich mich nach diesem Tag wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet die radikale Linke, die Antifa als Putztruppe für autoritäre Durchregierer wie Merkel, Spahn und Söder oder Angstschürer wie Drosten, Wiehler und Lauterbach durch die Straßen zieht und alles niederbrüllt, was in punkto Corona irgendwie nach Staatskritik riecht? Wieso stimmt die obrigkeitsfeindliche Antifa am lautesten ins Lied des There-is-no-alternative mit ein und heißt einen ordnungsstaatlichen Amoklauf und jegliche Einschränkung gut, anstatt sachinhaltliche Kritik zu üben? Wie kann es wieder zu argumentativem Austausch kommen, wenn sich offenbare große Teile der (radikalen) Linken in Wort und Tat bereits so weit aus dem Fenster gelehnt haben, dass der point of no return schon überschritten scheint? Eines kann ich sagen: Die Lehre von heute für uns vier, die wir auf dem Schweigemarsch waren, heißt: Vernetzen, reden, überzeugen. Vielleicht mit Diffamierung und Anfeindung leben. Manchmal vielleicht auch neue Freunde suchen. Aufgeben kann es auf jeden Fall nicht sein. Denn was man heute wie im Brennglas beobachten konnte, war eine Spaltung und Atomisierung von Gesellschaften und Gruppen, der Traumzustand für die neoliberale Restumkrempelung der Welt. Wie sagte schon Maggy Thatcher: „There is no society, there are only individuals“. In diesem Punkt war der heutige Tag ein voller Punktsieg für die neoliberalen Umgestalter, Nutznießer und Trittbrettfahrer der gegenwärtigen Krise.
Im livestream habe ich jemanden aus dem Schweigemarsch, zu den jungen, schreienden Menschen sagen gehört: „ihr gehört alle hierhin bei uns, ihr wisst er nur nicht!”
Große Teile der radikalen politischen „Linken” sind zur Herrschaftskonformität gedreht. (Solche Erscheinungen wie die „Antideutschen” zähle ich im Jahre 2021 gar nicht mehr dazu.)
Gerade die junge Linke besteht mittlerweile stark überproportional aus angepassten Mittelschichtskindern, die aus privilegierten Verhältnissen stammen und keinen Bezug zur Lebensrealität der hart arbeitenden Normalbevölkerung haben. Oftmals verachten sie das Proletariat und das „einfache Volk”, seine Lebens- und Denkweise – mal offen, mal subtil.
Ich war im November auf der Querdenken-Demo in Leipzig, die m.E. zu 99% aus Normalbürgern bestand. Im Nachhinein wurde sie in sektiererischen „linken” Zusammenhängen wie der jungen Welt und der Linkspartei als rechts dargestellt. Mit solchen Aktivisten zu reden, ist oftmals nicht zielführender als einen Zeugen Jehovas von seinem Glauben abzubringen. Im Landesverband der Linkspartei Sachsen kam es dahingehend wiederholt zu Zensurmaßnahmen, auch auf dem „linken”, bzw. antikapitalistischen Flügel der Partei.
Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich beschreibt in „Die Massenpsychologie des Faschismus”, wie sich der autoritäre Charakter in den Klassen unterschiedlich ausprägt. (Übrigens über politische Lager hinweg.)
Das Kleinbürgertum (dem ich viele heutige „linke” Aktivisten zuordnen würde) ist argwöhnisch und distanziert zur Autorität (Staat/Kapital/Großbürgertum/Vater) aber gleichzeitig auch devot, bzw. gehorsam und unterwürfig. Ich glaube, viele dieser Aktivisten leben diese Spaltung aus. Sie sind oberflächlich gesehen kritisch gegenüber vielen heutigen Zuständen, aber ein grundlegendes systemkritisches Handeln ist von ihnen nicht zu erwarten. Eher dagegen Verbalradikalismus und Ersatzhandlungen (eben gegen „Nazis” inkl. Querdenker sein/Gendern/Fairtrade-Kleidung…)
Das Maß an Projektion, dass diese Menschen ausleben, ist tatsächlich atemberaubend. Neulich wurde der altlinke Psychoanalytiker Klaus-Jürgen Bruder wegen diesem Interview als Reichsbürger bezeichnet: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26757
Eine Richtigstellung wurde in diesem Falle durch „Flucht” der Person abgeblockt. Mir scheint, das Phänomen Generation „Snowflake” / „Schneeflocke” (eine Generation, die nicht mit Meinungen klarkommt, die ihr Weltbild in Frage stellen) verbindet sich hier mit der „Cancel Culture”, also dem Drang nach Zensur.