von Klaus-Jürgen Bruder
Wir veröffentlichen hier einen Text von Klaus-Jürgen Bruder, der auf der ersten Konferenz der Anti-Lockdown-Linken am 17. März 2021 verlesen wurde.
Ein Gespenst geht um? Nein, das Gespenst ist verschwunden, vertrieben – die Monster haben die Herrschaft übernommen, aus allen Löchern steigen sie auf. Es sind nicht die Monster der Aufklärung, oder vielleicht doch? Die der instrumentellen Vernunft (Horkheimer)? Es sind die Macher, überzeugt davon, alles „machen“ zu können: jetzt wollen sie die Menschen machen, „Transhumanisten“! nachdem sie die Umwelt ruiniert haben.
Überall Katastrophen: Klimakatastrophe, Verkehrschaos in den Städten, Zerstörung des Landes, der Natur, des Klimas, Elend und Armut, nicht nur im „globalen Süden“, auch der arrogante Norden wird erfasst – jetzt bleibt nur noch, den Menschen an die denaturierte Natur „anzupassen“: ihn genetisch zu modellieren.
Die „Linke“ hat versagt – wer immer als die „Linke“ betrachtet wurde, wer immer sich als diese in der Öffentlichkeit dargestellt hat. Sie haben in einer Situation versagt, in der sie gebraucht worden waren: sie haben die Bürger im Stich gelassen, die sich von ihrer Regierung verraten gefühlt hatten, sie haben selbst ihr Programm, ihr Selbstverständnis, ihr Versprechen verraten, sie haben die Seite gewechselt, sind auf die Seite des Staates, der Regierung gegangen, in ihrem Begehren, vom Block an der Macht als „regierungsfähig“ akzeptiert zu werden.
Kurz nachdem die Berichte über ein gefährliches Virus die mediale Öffentlichkeit erreicht hatten, und kurz darauf die ersten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Bürger mit der Behauptung von der Gefährlichkeit dieses Virus begründet worden waren, artikulierte sich ein erster Protest, initiiert von jungen, bis dahin unbekannten Intellektuellen, an dem zahlreiche Bürger teilnahmen, dem Eindruck nach wohl integrierte, berufstätige Frauen und Männer, aus dem Durchschnitt der Gesellschaft – von den bis dahin bekannten Linken, ob Parteilinke oder Vertreter der kritischen Öffentlichkeit, war keiner dabei.
Die Berichte über diese Demonstration am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin waren eher befremdet bis ironisch distanzierend. Je öfter sich die Demonstrationen wiederholten, umso stärker wurde das abfällige Urteil über die Teilnehmenden; sehr schnell trat der Verdacht auf, es könnten „Rechte“ dabei sein, die Rechten bestimmten die Demonstration, die ganze Veranstaltung sei eigentlich rechts, eine neue Pegida. Eine groteske Verkehrung! Verkehrung von „links“ und „rechts“: als wären Regierung und Staatsapparat „links“, weshalb Kritik am Staatsapparat, an der Politik des Coronaregimes nur „rechts“ sein könnte.
Woran machte sich dieses Urteil fest, das eigentlich eine Verurteilung war? Weder die inhaltliche Argumentation des Aufrufs, der Parolen, noch die Herkunft der organisierenden Personen rechtfertigten die Einordnung der Proteste als rechts – ein eigenartiges Verständnis: die Berufung auf das Grundgesetz, die im Zentrum des Aufrufs zum Protest stand, als rechts zu bezeichnen oder die Kritik an der Regierung, die ja über jeden Zweifel erhaben ist und war, eine linke, sozialistische Regierung zu sein!
Frappierend war und ist immer noch sowohl die Geschwindigkeit, mit der dieses Urteil auftrat als auch die breite Zustimmung zu diesem Urteil seitens derer, die sich nicht an diesem Protest beteiligten. Noch nie auf einer Demo gewesen zu sein und trotzdem zu wissen, wer dort demonstriert, wer auf dieser Demo spricht, was er sagt – woher weiß man das, wenn man nicht dort war? Aus den Berichten anderer, aus den Darstellungen in den Medien, aus der Erklärung der Politiker: ihnen vertraute man mehr, als denen, die demonstrierten. Die Loyalität gegenüber denen, die die Behauptung von der Gefährlichkeit des Virus und der Notwendigkeit der Maßnahmen gegen dessen Ausbreitung verkündet und durchgesetzt haben, die entscheidende Stütze der Regierung in der Civil Society selbst (Brückner)[1], war erstaunlich, ja erschreckend groß, sie ermutigte sogar jugendliche, meist studentische „Gegendemonstranten“ zu wüstesten Beschimpfungen bis hin zu körperlicher Gewalt. Der Diskurs der Macht hatte das Corona Virus für sich instrumentalisiert.[2]
Die Mentalität des loyalen, vielleicht sogar dankbaren, Staatsbürgers wurde oder hat sich allerdings lange vorbereitet. Die Verkehrung (von links und rechts) ist nur der Endpunkt einer längeren Entwicklung. Wir erinnern uns an die leichtfertige, aber nicht weniger wirkungsvolle Etikettierung der Politik der Regierung Merkel als „sozialdemokratisch“, was gegen ihre „Flüchtlingspolitik“ gerichtet war. Während ihre Flüchtlingspolitik nur ein kurzer, vorübergehender und wieder zurückgenommener Schachzug gewesen war, der der Rechtsentwicklung als Steilvorlage diente, ebenso wie die AfD, war die Politik vor Merkel bereits keine sozialdemokratische, sondern eine, die dem Rollback seit den Jahren nach 68 nur einen „sozialdemokratischen“ Anstrich gab oder zu geben versuchte. Der Inhalt dieser Politik des Rollback war, die „Freiräume“, die eine aufmüpfig oder übermütig gewordene Jugend in den achtundsechziger Jahren den Herrschenden abgerungen hatte, wieder abzuräumen. Die einzelnen Etappen waren: Verbote der wichtigsten Organisation der Studentenbewegung, des SDS, und Berufsverbote ihre Mitglieder, ebenso wie der DKP, Kriminalisierung öffentlicher Stellungnahmen zu politischen Ereignissen, zum Beispiel zu „Mescalero“, „RAF“ und „Zweiter Juni“ (zweimalige Suspendierung Peter Brückners, des Ordinarius für Psychologie der Universität Hannover), Parlamentarisierung der „außerparlamentarischen Opposition“ durch die „Grünen“, Einsatz dieser parlamentarisierten Opposition für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien, durch den der „Antifaschismus“ zur Staatsräson erhoben wurde (nicht erst durch Merkel), womit der Diffamierung der Kritik imperialistischer Politik als „Antisemitismus“ der Weg gebahnt worden war, die schließlich in der Einrichtung eines eigenen Staatsbeauftragten für „Antisemitismus“ kulminierte, womit der gegenwärtige Status der Verkehrung bereits erreicht war:
Verkehrung von links und rechts, Verkehrung von Affirmation und Kritik, die Analyse von gesellschaftlichen Zusammenhängen wird als „Verschwörungstheorie“ ebenso aus dem Diskurs verbannt, wie Kritik der Herrschenden als „Antisemitismus“.
Diese Verkehrung haben die Linken übernommen! Weshalb?
Die Wirkung des Diskurses der Macht?
Der Diskurs der Macht kann seine Wirkung nur ausüben, wenn man sich auf ihn einlässt, und sich gemäß seiner Regeln in ihm bewegt. Hat man einmal das Virus als Subjekt gesetzt[3], d. h. den vom Diskurs der Macht gesetzten Signifikanten akzeptiert, dann folgt alles weitere wie von selbst: die Affirmation der Macht, selbst wenn man – lange danach – die „Folgen“ der durch den Diskurs der Macht legitimierten Maßnahmen kritisiert – Arbeitslosigkeit, gesellschaftliche und psychische Zerstörung. Man kann die schlimmsten Bedrohungen „prophezeien“ – die Bedrohten klammern sich an den vermeintlichen Retter – es ist wie im Krieg. Und – auch eine Umkehrung der Verhältnisse: die Gewalt, deren der Retter nicht bedarf, geht nun von denen aus, die sich an ihn klammern und diese richten sie gegen die, die die Rettung ihrem Verständnis nach sabotieren: die Kritiker der Macht.
Voraussetzung war die Entscheidung, sich am Diskurs der Macht zu beteiligen, sich auf ihn einzulassen, seine Parolen, Behauptungen, Versprechungen, Begründungen zu übernehmen. Diese Entscheidung liegt auf der Linie der – vor allem aber wahrscheinlich nicht nur – Parteilinken, Anschluss an den herrschenden „Block an der Macht“ zu gewinnen, von diesem als „politikfähig“ akzeptiert zu werden.
Die Voraussetzungen wiederum dieser Entscheidung sind vielfältige: Peter Brückner hätte sie die „Großwetterlage“ genannt. Überall ist die Linke in der Defensive: der schwerste Schlag war wohl die Auflösung der Sowjetunion – sie war ja auch als „Ende der Geschichte“ von den Siegern gefeiert worden. Aber auch in den Ländern, in denen die Revolte von 68 einen kulturellen Bruch mit der Geschichte von Herrschaft vorgebracht hat, hat die herrschende Klasse „gesiegt“ (Warren Buffett)
Dieser Sieg, der seinen vorläufigen Höhepunkt in der Errichtung des Corona Pandemieregimes gefunden hat, ist auch ein Sieg über die Köpfe, über das Bewusstsein, Klassenbewusstsein, ein Sieg der Wirkung der „Verkehrung“.
Die Struktur der „Verkehrung“ wurde von Marx in den Frühschriften[4] entfaltet. 1844 hat er geschrieben; „Hätten wir als Menschen produziert“, so wäre meine Arbeit „freie Lebensäußerung“. Unter der Voraussetzung des Privateigentums ist sie Lebensentäußerung, denn ich arbeite, um zu leben, um mir ein Mittel des Lebens zu verschaffen. Mein Arbeiten ist nicht Leben“, nicht „Genuss des Lebens“. Sie erscheint […] „nur noch als der gegenständliche, sinnliche, […] Ausdruck meines Selbstverlustes und meiner Ohnmacht.“
Im „Kapital“ wird diese Vorstellung wieder aufgenommen als die „der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit, von Wert und wertschöpferischer Kraft“ (MEW 23, S. 329) – eine Verkehrung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zur Beziehung von Sachen, zu sachlichen Verhältnissen.
Diese Verkehrung durchzieht alle menschlichen Verhältnisse und Beziehungen, Diskurse bis hin zu den Wissenschaften, die diesen Zustand der Verkehrung als den ursprünglichen, normalen, natürlichen betrachten und behandeln.[5] Dadurch wirken sie mit an der Affirmation der verkehrten Verhältnisse.
Die Situation der Linken ist Teil dieser Misere, dieses Elends der Verkehrung, ihr Ausdruck. Zugleich aber sind sie nicht bloß Opfer der Verhältnisse, sondern haben zu diesen Verhältnissen mit beigetragen, zur Verkehrung des Denkens über diese Verhältnisse, zur Desorientierung der Menschen, der Bevölkerung, zur Rechtfertigung der Zerstörung, der Depotenzierung der schöpferischen Kraft, der Kastration, indem sie die Verkehrung der Aufklärung, der Kritik (der Verhältnisse, Klassenverhältnisse) verstärkt, zugelassen, in die Köpfe der Ausgebeuteten gebracht haben: die Umkehrung der „Werte“: Solidarität, in die Kumpanei mit den Herrschenden der Volksgemeinschaft, nicht nur indem sie die Kritik der Verhältnisse in deren Affirmation verkehrten, sondern zum Feind erklärten, als „rechts“, als „Verschwörungstheorie“. Sie haben damit die Bevölkerung verraten, im Stich gelassen in ihrem Protest. Das war für die Nerds die Chance ihr menschenfeindliches Programm durchzusetzen.
Dieses Programm, „Reset“ genannt, tut so als sei es möglich, das Programm der Anpassung des Menschen an die unerträglich gewordenen Zustände zu Ende zu führen, unter den verkehrten Begriffen der Nachhaltigkeit, des Umweltschutzes, der Verantwortung, des Glücks, sogar der Enteignung: „ihr werdet nichts mehr besitzen, aber ihr werdet glücklich sein“ (Schwabs „Brave new world“). Es ist die Fortsetzung, der Endpunkt des seit den 70er Jahren betriebenen Krieges gegen die Insubordination der Bevölkerung, des „revenge“ der gedemütigten herrschenden Klasse, gedemütigt durch die Achtundsechziger, der kapitalistischen Antwort – der neoliberalen Grufties – auf die Bewegungen der Schwarzen, der Frauen, der Studenten und der Arbeiter*innen in den 60er Jahren (Negri).
Die „Regierbarkeit der Gesellschaft“ war es, worum die Herrschenden fürchteten.[6]
Ihre Antwort bestand einerseits in – zur Entmachtung der Arbeiterklasse entwickelten und eingesetzten (Negri) – Veränderungen der Organisation der Produktionsabläufe in der Fabrik[7] durch die die Arbeiter voneinander isoliert wurden – eine Vorwegnahme der heutigen „Abstands-Regel“ – und zugleich in der „Diffusion“ der Produktion in die Gesellschaft mit neuen Formen der sozialen Kontrolle der Arbeiter und Angestellten außerhalb der Betriebe, wodurch alle Bereiche und Dimensionen des Lebens – außerhalb des Arbeitsplatzes – Gegenstand von Ausbeutung wurden: neben der Produktion, die Reproduktion, Zusammensein, Wissen, Affekte, Erfindungskraft.
Diese Veränderungen wurden durch die Entwicklungen der Digitalisierung möglich, die ab Ende der 70er Jahre, und im massiven Umfang erst in der Mitte der 80er Jahre in Gang kam. Mit ihr wurde nicht nur eine Steigerung der Produktivität der Arbeit möglich, sondern zugleich eine Verbreiterung und Vertiefung der Kontrolle und Überwachung – innerhalb der Fabrik wie außerhalb. Die Überwachung der Kommunikation und der Bewegungen der Bürger, die über die über sie erhobenen und gesammelten Daten und deren Verwendung keine Kontrolle, haben bedeutet eine (weitere) Zerstörung der Demokratie – oder sollen wir sagen des Schleiers von Demokratie: „Postdemokratie“ (Crouch), „autoritärer Kapitalismus“ (Heitmeyer).
Die Monster haben die Herrschaft übernommen, aus allen Löchern steigen sie auf. Das sind nicht die Monster der Aufklärung, das sind die Monster der Verkehrung (der Aufklärung), sie fragen nicht, wie können wir unsere Arbeit erleichtern, um unser Leben genießen zu können.
Nein, sie drehen die Möglichkeiten der Erleichterung der Arbeit um, in die Möglichkeit, die Ausbeutung zu erhöhen, Ausbeutung der Natur, Ausbeutung des Menschen, statt den Genuss des Lebens zu erhöhen, wird der Reichtum als dinglicher, sachlicher aufgehäuft, den sie voreinander verteidigen, verstecken, schützen müssen, als Eigentum, das sie sich gegenseitig streitig machen, sich gegenseitig umbringen, bis nur noch einer übrig bleibt: der letzte Mensch, „Leviathan“, das Ungeheuer des „Staates“, des Kapitals, in Gestalt des obersten Nerd.
[1] Bruder, Klaus-Jürgen Bruder (2013). Massenloyalität. Zur Aktualität der Sozialpsychologie Peter Brückners. In: Sozialpsychologie des Kapitalismus. Zur Aktualität Peter Brückners – heute. (Hg. v. Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Benjamin Lemke). Psychosozial-Verlag, Giessen, S. 13–31.
[2] Klaus-Jürgen Bruder (2020). Der Diskurs der Macht hat das Virus okkupiert – nicht umgekehrt; https://www.ngfp.de/2020/03/der-diskurs-der-macht-hat-das-corona-virus-okkupiert-dazu-einige-widerstaendige-wortmeldungen-aus-dem-kreis-der-freunde-der-neuen-gesellschaft-fuer-psychologie/
[3] https://www.rationalgalerie.de/gelesen-gesehen-gehoert/virus-zum-subjekt-gemacht
[4] s.: Marx, Karl, „Auszüge aus James Mills Buch „Eléments d’économie politique“. Trad. Par J. T.Parisot, Paris 1823, in: MEW Ergänzungsband Erster Teil, Dietz Verlag Berlin, 1968, S. 462f
s.a.: Marx, Karl, „4. Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“, in: MEW 23, Das Kapital, Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, 1. Abschnitt, Ware und Geld, 1. Kapitel, Die Ware, S. 85–94
[5] Klaus-Jürgen Bruder (2013). „Was ist Kritik der Psychologie und was kann sie leisten“; https://www.ngfp.de/wp-content/uploads/2013/09/KJB.2013.Was-ist-Kritik-der-Psychologie-und-was-kann-sie-leisten.pdf
[6] Bericht der Trilateralen Kommission von 1975.
[7] nach dem Ort ihrer beispielhaften Anwendung Toyotismus genannt
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